Obdachlose gibt es nicht

Im letzten Jahr war er bereits da. Unter der nächstgelegenen SanYuan-Brücke lag ein Haufen Dinge, die man vielleicht am ehesten als Müll bezeichnen würde. Für den einen ist es ein Schokoriegel, für den anderen die längste Praline der Welt…
Der, für den der Haufen einen Schatz darstellt, ist im Rollstuhl unterwegs, und ich hatte ihn bei meinen kurzen Fahrten zur Schule schon im letzten Jahr oft gesehen, wie er sich langsam durch den Verkehr schiebt. Dabei war er mir besonders aufgefallen, weil er stets ein Lachen auf dem Gesicht trug.
Lao Chen
Lao Chen schläft unter der Brücke, wohnt dort und ich fragte mich immer, wie man es bei der Kälte dort draußen aushalten kann, wenn wir manchmal sogar in unserem Schlafzimmer frieren.
Lao Chen
Gerade an dem Tag im letzten Jahr, an dem ich Zeit hatte und ihn ansprechen wollte, war er fortgewesen und sein ganzes Zeug war offensichtlich von der Müllabfuhr entsorgt worden.
Jetzt war er wieder da und ich fragte ihn nach seiner Geschichte. (Das ist natürlich schwierig, weil ich noch lange kein Chinesisch kann. Mit einem Freund als Übersetzer ging es dann doch. Ob alles stimmt, was er uns erzählte, kann ich natürlich nicht garantieren, aber ich habe keinen Grund, das Gegenteil anzunehmen.)
Als ich es das erste Mal allein versuchte, blieben einige Chinesen stehen, machten Fotos von uns und drückten ihre Be- oder Verwunderung aus, dass sich ein Ausländer mit ihm beschäftigt. Eine junge Frau sagte, sie käme jeden Tag hier vorbei und sehe das erste Mal jemanden mit ihm reden. Wundert mich nicht, wo man nicht mal im Fahrstuhl Hallo sagt, wenn jemand zusteigt. So ist China nun mal.
Lao Chen ist seit 1993 auf der Straße. Das sind mehr als 20 Jahre! Er ist 50 Jahre alt, 3 Jahre jünger als ich.
Davor arbeitete er bei einer Eisenbahngesellschaft. Während seiner Arbeit bekam er mit, dass seine Vorgesetzten korrupt waren und Geschäfte nebenbei machten. Er versuchte, das publik zu machen. Daraufhin wurde er zusammengeschlagen. Seitdem ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Er kann sich immerhin selber hinein und heraushieven.
Sein Vater setzte sich dafür ein, dass ihm eine Entschädigung erteilt wird. Daraufhin wurde auch er zusammengeschlagen. An den Folgen der Prügelei starb er.
Lao Chen gab nicht auf, um Gerechtigkeit zu kämpfen, kam aber in Wuhan, wo er herkommt, vor Gericht nicht weiter, seitdem versucht er sein Glück in Beijing und hofft, eines Tages bei einem höheren Gericht in der Hauptstadt Erfolg zu haben.
Er lebt auf der Straße, denn es gibt keine Sozialstation, bei der er um ein Dach bitten kann oder eine Beijinger Tafel, bei der er sich Essen holen kann. Einige Zeit war er in der Nähe der amerikanischen Botschaft, bis er dort von Wachpersonal vertrieben wurde. Immerhin steckten ihm Botschaftsmitarbeiter Geld zu, erzählt er.
Offiziell gibt es gar keine Obdachlosen, also braucht man auch nichts dagegen tun. Oder für sie. Während eines Gesprächs mit ihm kam ein anderer Chinese an und schlug vor, er solle doch arbeiten gehen, er könne doch wie der andere Mann unter der Brücke als Parkwächter tätig sein. Immerhin wird er von der Polizei selten weggeschickt, weil er auf den Rollstuhl angewiesen ist und Polizisten auch in China normalerweise keine Unmenschen sind.
Lao Chen
Sein Essen sucht er sich in der Umgebung zusammen. Dafür hat er eine T-förmige Eisenstange, mit der er Mülltonnen durchsucht. Mit zusammengesammeltem Holz kann er seinen Wassertopf erhitzen und Suppe kochen.
LaoChen
Manchmal schenken ihm Passanten Geld oder Essen. Ich war mit ihm in einem nahgelegenen Nudelrestaurant, das gewählte Essen war das billigste Gericht auf der Karte und er war nicht zu etwas teurerem zu überreden.
Lao Chen
Wenn er mal wie am Tag, an dem ich ihn begleitete, ein angebrochene Flasche Schnaps findet, freut er sich darüber, sich kurzfristig in der Kälte der Nacht innerlich wärmen zu können.
Lao Chen
Zur Toilette geht er nicht. Er pinkelt in eine Flasche und große Geschäfte macht er verborgen unter seiner Decke und entsorgt „es“ dann in der Natur.
Lao Chen
Ich fragte ihn, was er brauchen könne. Erwartet hatte ich etwas, das ich im nächsten Laden kaufen könnte oder Geld. Seine Antwort war jedoch ZhengYi – Gerechtigkeit. Das kann ich selbstverständlich nicht bieten. Was ich tun kann, ist regelmäßig bei ihm vorbeizufahren und ihm etwas mitbringen, was er sonst nur schwer bekommt oder sich nie kaufen würde. Und wichtiger ist vielleicht noch, kurz mit ihm zu sprechen und Aufmerksamkeit schenken. Sein Lächeln ist dann für mich ein schönes Mitbringsel.
Lao Chen